Das erste mal

Am Freitagnachmittag…

..fällt meiner Gesangslehrerin ein,

dass ich bei ihrem Konzert am Samstagabend auf die Bühne soll. Ich bin vor Ort, weil ich bei ihr ein musiktherapeutisches Praktikum mache. Das war im September 2002.
Sie stellt sich vor, dass ich den „Liebeszauber“ singe und sie mich am Flügel begleitet. „Wir machen das frei von der Leber weg, wie im Unterricht.“ meint sie.

Ich bin noch nie auf einer Bühne als Solistin gestanden. Seit zwei Jahren nehme ich Gesangsunterricht. Meine Erfahrungen im Liedvortrag beschränken sich auf Familienfeiern und kindliche Vorführungen für die Verkäuferinnen bei Tengelmann.

Als Gitarrenkind konnte ich mich in der Gruppe verstecken, wenn wir beim Musikschulkonzert aufspielten. Ich fühle mich überrumpelt. Meine Lehrerin meint, es sei gut, dass ich wenig Zeit habe, um mich aufzuregen. Das Herz rutscht mir in die Hose. Ich suche nach Ausreden. Fehlende Garderobe kann ich nicht anführen.

 

In meinem Köfferchen befinden sich..

..ein schwarzes Designerkleid im A-Schnitt, eine Aquamarinkette und elegante Schuhe. Dieses Outfit wollte ich beim Konzert meiner Lehrerin und ihrer Mitmusikerinnen tragen. Ich bin gut bei Stimme, habe keine Erkältung. Ich fühle mich geschmeichelt, dass sie mir zutraut vor 150 Leuten aufzutreten.

Die Melodie zum „Liebeszauber“ stammt von mir. Das Publikum hat keine Vergleichsmöglichkeiten. Ich habe nur eine Nummer zu singen. Was soll schon schief gehen? Ich finde Gefallen an dem Auftritt.
Das „besondere Rathauskonzert“ im Bürgersaal der Kleinstadt ist ausverkauft.

E. wird ihr Buch über Frauenmusiktherapie vorstellen, dass demnächst erscheint. Sie wird Werbung machen für das Musiktherapieprojekt am Kurhaus für erschöpfte Mütter, welches sie mit M. in die Welt gerufen hat. Zusammen mit einer versierten Violinistin und Harfenistin werden die erfahrenen Musikerinnen auf Klavier, dem Saxofon, Flöten, Rhythmusinstrumenten und mit der Stimme Klanggemälde improvisieren und die Zauberkraft der Musik unter Beweis stellen.

 

„Die Zauberin begegnet uns in jeder Frau, die ihre musikalische Kreativität wieder entdeckt.“

..steht im Programm. Eine Patientin aus dem Kurhaus, und ich werden als Überraschung aus dem Hut gezaubert.
Am Samstagnachmittag schleppt unsere kleine Truppe die kostbare Barockharfe über die enge Wendeltreppe in den altehrwürdigen Bürgersaal. Ich fühle mich unwirklich, betäubt, kraftlos. Deshalb fasse ich die Harfe lieber nicht an. Ich steige auf die Bühne, schreite über die alten Holzbohlen. In der Nähe des Flügels trete ich auf ein lockeres Brett, das mit einem lauten Knarzen antwortet. Ausgerechnet in dem Bereich, wo ich mich aufhalten werde! Ich versuche, mir die Stelle einzuprägen. Meine Generalprobe läuft gut. Noch ist der Saal leer.

Wir gehen danach ins Café. Mein Magen ist leer und verschlossen. Ich sollte dringend etwas essen. Zittere ich wegen dem niedrigen Blutzuckerspiegel oder vor Aufregung? Mir fällt ein, wie ich das erste Mal im Operationssaal gearbeitet habe. Da war ich stocknüchtern und wäre beinahe umgekippt bei dem Geruch von Desinfektion und Blut. Ich muss etwas in meinen Magen hinein kriegen. Ich bestelle mir einen Kakao, der nährt und beruhigt. Die Harfenistin fällt aus allen Wolken. Wie kann ich mir als Sängerin ein verschleimendes Milchprodukt zuführen? Als Anfängerin bin ich in solche Feinheiten nicht eingeweiht. Ich schäme mich.

Bevor es ernst wird, bürste ich mir auf dem Klo die Haare, lege etwas Lippenstift und Kajal auf. Auf dem Lokus mache ich Stimmübungen, trällere ein paar Töne. Eine Künstlergarderobe wie im Film gibt es nicht.
Während das Publikum in den Saal strömt, sitzen wir seitlich neben der Bühne wie die Hühner auf der Stange. Zum Glück habe ich mein wollenes Umschlagtuch dabei, denn es ist saukalt in dem alten Gemäuer. M. klärt mich auf, wer die Menschen in der ersten Reihe sind: die Honoratioren des Landkreises, von denen das Geld kommt, Bürgermeister, Landrat, Kulturreferent nebst Gattinnen. Der Geruch von Kleidern, die den Schrank lange nicht verlassen haben, breitet sich aus.

 

Mir ist übel.

Kälteschauer laufen meinen Rücken hinunter, meine Hände schwitzen. Im Hals sitzt ein Frosch, der vorher nicht da war. E. meint, der würde mit dem ersten Ton davon hüpfen.
Die Zeit, bis ich dran bin, verbringe ich in einer Art Schockstarre. Ich habe keinerlei Erinnerung daran bis E. den Liebeszauber erklärt. Italienische Hexen haben aus Asche und Wachs Herzen geformt. Die Person, deren Herz das künstliche Herz darstellte, sollte durch Magie zur Liebe erregt werden.

Ich steige auf die Bühne und schaffe es, nicht auf das vermaledeite Brett zu treten. Ich stelle mich neben den Flügel, lege meine Hand auf das vertraute Instrument, lasse die Töne vom Intro in meinen Körper fließen. E. nickt mir zu. Wenn ich den Text vergesse oder sonst wie den Anschluss verliere, wird sie es gekonnt überspielen. So haben wir das ausgemacht.

Ich lasse meinen Blick über das Publikum schweifen und bleibe in der ersten Reihe hängen. Da sitzt ein Pepitasakko mit einem Kopf, der mich an die Eier erinnert, die mein Vater zu Ostern bemalt hat. Schwarze Fransen fallen in die Stirn, Hornbrille, Schnurrbart und Fliege. Der Herr hat die Arme und Beine übereinander geschlagen. Mustern die Augen hinter der Brille mich etwa kritisch? Ich weiß, wie ich aussehe. Ich bin dick, aufgedunsen vom Kortison, in meinem Vollmondgesicht wächst ein Schnurrbartansatz.

Ich stelle mir vor, ein neapolitanisches Rasseweib zu sein. So geht das. Ich werfe meine volle Mähne zurück und fixiere kurz das Ei n der ersten Reihe. Dann lege ich los: „Bevor das Feuer du löschest aus, mach dass du kommst zu meinem Haus.“

 

Meine Stimme ist voll da.

Mein Blick kommt von dem Ei in Pepita nicht los. Der Herr hat Arme und Beine gelöst, er starrt mich an. „Lieb zu mir, dich also quäle, wie ich dieses Herz hier pfähle.“
Ich singe den Liebeszauber drei Mal in verschiedenen Tempi. Der letzte Ton ist verklungen. Ich verbeuge mich. Das Ei in der ersten Reihe ist errötet und applaudiert begeistert.

Beim Abgang trete ich auf das vermaledeite Brett. Es gibt einen ungezogenen Ton von sich, der im Applaus unter geht.
Jetzt fühle ich mich großartig, so leicht wie eine Feder. So ist es also, ein Star zu sein. Die Dame vom Lokalblatt knipst mich. Der Pepitamann kommt auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Die Truppe lobt mich.

Ich habe keine Zeit, runterzukommen. Am Sonntagvormittag singe ich im eiskalten Konzertsaal eines angestaubten Schlosses in Thüringen zur Matinee. Ich bin mit dem „Liebeszauber“ die Nummer sieben im rasch von Hand geschriebenen Programm. Vor dem Auftritt habe ich gefrühstückt.

Am Montag sind die Glückshormone abgeklungen. Ich fühle mich leer, ausgebrannt, zerstört. Wir gehen mit der Truppe durch die Kleinstadt zum Café, um zu frühstücken. Ich habe den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ich will nicht, dass mich jemand mit der Sängerin des „Liebeszauber“ in Verbindung bringt.

Ich schäme mich abgrundtief. Spräche mich jemand an, würde ich in Ohnmacht fallen. Es ist als hätte ich mich im Rausch nackt präsentiert und käme nun wieder zu Bewusstsein. Im Café drücke ich mich in die Ecke. Der Appetit ist wieder da. Mit dem Essen steigt die Laune. Wir schlagen die Zeitung auf. Eine halbe Seite zum Konzert ist drin. Das Foto von mir ist allerdings nicht drin…